Gustloff
9343 Menschen riß die "Gustloff" in den Tod
Am 30. Januar 1945 geschah die größte Schiffskatastrophe der Geschichte Einhundertsiebenundsiebzig
Menschen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Holland, England,
Schweden, Kanada, den USA und Australien feierten am 30. Januar 1999 ihren 54.
Geburtstag, obwohl manche von ihnen das 80. Lebensjahr bereits überschritten
haben.
Sie feiern zweimal im Jahr ihre Geburt, weil
sie in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 "zum zweiten Mal geboren" wurden.
Diese 177 Menschen sind die heute noch lebenden Überlebenden des Unterganges
der "Wilhelm Gustloff", der größten Schiffskatastrophe der Geschichte.
Das mit mehreren tausend Flüchtlingen aus Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und
Pommern total überladene ehemalige KdF-Schiff wurde am Abend des 30. Januar
1945 auf dem Weg von Gotenhafen nach Kiel und Flensburg auf der Höhe von Stolpmünde,
zwölf Seemeilen von der Küste entfernt, von drei Torpedos des sowjetischen U-Bootes
"S 13" getroffen und sank innerhalb von 62 Minuten.
Die älteste Überlebende ist die im Januar 1945 aus Schwarzort auf der Kurischen
Nehrung mit ihren Kindern geflohene Nora Schwarz (86), die heute in einem Seniorenheim
in Uelzen lebt, der jüngste Überlebende ist Egbert Wörner, der am 29. Januar
1945, 24 Stunden vor dem Untergang, auf der "Wilhelm Gustloff" geboren wurde.
Einer der Überlebenden ist Heinz Schön. Der damals 18jährige Zahlmeister-Assistent
gehörte zur Stammbesatzung des Schiffes.
Das Erleben der Katastrophe hat den heute 72jährigen
zeitlebens nicht mehr losgelassen.
53 Jahre ist er dem Schicksal der "Gustloff" nachgegangen, hat es erforscht,
vom Bau bis zum heute in 42 Meter Tiefe auf dem Grund der Ostsee liegenden Wrack.
1951 veröffentlichte er sein erstes Gustloff-Buch, das sechs Jahre später dem
mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichneten deutsch-amerikanischen Regisseur Frank
Wisbar als Basis für den Spielfilm "Nacht fiel über Gotenhafen" diente. Um die
Bundesregierung in Bonn, die Eigentümerin des Wracks der "Wilhelm Gustloff"
ist, zu veranlassen, sich dafür einzusetzen, daß das Wrack als "internationales
Seekriegsgrab" anerkannt und damit vor Wrackräubern geschützt wird, nahm Heinz
Schön an drei Gustloff-Wrack-Expeditionen teil, verfaßte über das bereits geplünderte
Wrack eine fotodokumentierte Eingabe an die Bundesregierung, die danach den
Schutz des Wracks veranlaßte.
50 Jahre nach dem Untergang der "Wilhelm Gustloff" glaubte Heinz Schön, von
dem 1984 im Motorbuch-Verlag Stuttgart eine umfassende Dokumentation ("Die Gustloff-Katastrophe
- Bericht eines Überlebenden") erschienen war, er wisse jetzt alles über das
Schiff, die Katastrophe und ihre Zusammenhänge. Doch er irrte und dies in einem
besonders wichtigen Punkt. Immer wieder war die von ihm veröffentlichte Zahl
von insgesamt 6600 Passagieren, die auf der "Wilhelm Gustloff" gewesen sein
sollen, angezweifelt worden, da der kleinere Dampfer "Deutschland", der einen
Tag nach dem Untergang der "Gustloff" aus Gotenhafen ausgelaufen war, 12.000
Menschen an Bord gehabt hatte.
Heinz Schön hatte sich aber an die erhaltene Passagierliste gehalten, die die
Namen von 4974 Flüchtlingen aufweist.
Am 30. Januar 1997, nach einem von ihm gehaltenen Vortrag über die Gustloff-Katastrophe
in Freiburg, fand er seinen Lebensretter, den ehemaligen Marine-Sanitäts-Oberfähnrich
Werner Schoop, heute ein im Ruhestand lebender Medizin-Professor. Schoop hatte
unmittelbar nach dem Kentern der "Gustloff" den in der Ostsee treibenden Heinz
Schön auf sein Floß gezogen. Schoop machte Heinz Schön mit seinem Crew-Kameraden
Dr. Waldemar Terres bekannt, der der letzte für die Registrierung der Flüchtlinge
verantwortliche "Einschiffungsoffizier" war und der die genaue Zahl der eingeschifften
Flüchtlinge notiert hatte.
Die Begegnung mit diesem Überlebenden konfrontierte den "Chronisten der Gustloff-Katastrophe"
mit der erschütternden Tatsache, daß nicht 4974, wie in der Passagierliste verzeichnet,
sondern 7956 Flüchtlinge bis zum Spätnachmittag des 29. Januar 1945 an Bord
gekommen waren; weitere eintausend folgten noch bis zum Auslaufen des Schiffes
am Mittag des 30. Januar 1945. Damit stand fest, daß sich nicht insgesamt 6600,
wie bisher angenommen, sondern 10.582 Passagiere auf der Todesfahrt an Bord
befanden.
Da nur 1239 die Katastrophe überlebten, riß die "Wilhelm Gustloff" in der Untergangsnacht
9343 Menschen, darunter mehr als 8000 Flüchtlinge, mehr als die Hälfte Kinder,
mit in den Tod.
Noch nie, seitdem Schiffe die Meere befahren, haben soviele Menschen bei einer
Schiffstragödie ihr Leben verloren. Diese völlig neue Dimension der Tragödie
des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" veranlaßte Schön zu weiteren Recherchen
und dazu, eine neue Dokumentation zu schreiben, sein "Lebenswerk", wie er selbst
sagt, nach 54jähriger Beschäftigung mit dem Schicksal dieses Schiffes und den
Menschen, die darauf gefahren und die mit ihm untergegangen sind. Unter dem
Titel "SOS Wilhelm Gustloff - Die größte Schiffskatastrophe der Geschichte"
ist jetzt im Motorbuch Verlag Stuttgart die neue Dokumentation von Heinz Schön
erschienen. In diesem als Bild-Dokumentation konzipierten, im Großformat herausgegebenen
Werk schildert der Autor auf 256 Seiten, mit 348 Fotos, davon 30 in Farbe, das
Schicksal der "Gustloff" vom Bau bis zum Wrack. Schwerpunkte sind der Untergang
und die dramatische Rettungsaktion, wobei der Autor nicht nur eigene Erlebnisse
schildert, sondern über 30 weitere Überlebende und Retter mit eigenen Kurzbeiträgen
zu Wort kommen läßt.
Den Plünderungen des Gustloff-Wracks bei der
Suche nach dem legendären "Bernsteinzimmer" hat der Autor ebenfalls ein Kapitel
gewidmet, ebenso seinen Begegnungen mit den ehemaligen Kriegsgegnern in Leningrad,
dem heutigen St. Petersburg und in Königsberg, wo Schön in den letzten Jahren
ebenfalls Vorträge über den Untergang der "Wilhelm Gustloff" hielt. Als eine
Verhöhnung der Gustloff-Opfer empfindet Heinz Schön die Tatsache, daß Rußland
am 8. Mai 1990 den Kommandanten des sowjetischen U-Bootes "S 13", Alexander
Marinesco, 25 Jahre nach dessen Tod zum "Helden der Sowjetunion" erklärte.
Heinz Schön schreibt abschließend in seiner Dokumentation: "Das Bild des Krieges
hat zwei Seiten. Das eine zeigt den Sieger, den Befreier, den Unschuldigen.
Das andere den Besiegten, den Befreiten, den Schuldigen. Doch Täter und Opfer,
Unschuldige und Schuldige, gibt es auf beiden Seiten. Die Versenkung der "Wilhelm
Gustloff" gibt ein Beispiel dafür.